Nach dem Krieg wurde ich während
der Ferien öfters an meine städtische Tante ausgeliehen. Sie war
das einzige Geschwister meiner Mutter, und sie versuchte mir, der ich ein
unbeholfener Junge vom Land war, einige Manieren beizubringen. Es gab einen
Salon, in dem ich selbstverständlich nicht sitzen durfte, in den ich
mich aber manchmal schlich, um eines der riesigen Bilder (für mich waren
es die größten, die ich bis dahin zu Gesicht bekommen hatte) abzumalen.
Ich saß in der Küche, wo ich unter Aufsicht eines Dienstmädchens
Übungen für die Schule hätte machen müssen, ging hin und
wieder, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, in den Salon, versuchte mir
einiges einzuprägen vor meinem favorisierten Bild, schlenderte zurück
in die Küche, zog unbemerkt das Papier meiner Zeichnung unter dem Schulheft
hervor und zeichnete. Mit genau der Handvoll Buntstifte, die ich für
meinen Atlas gebraucht hatte. Sie waren heil, wenn auch verstümmelt und
abgenutzt durch den Krieg gekommen, mein größter Schatz.
Später wurde ich kühner. Nachdem ich während einer Woche täglich
mehrere male zwischen zuhause und einem kleinen Schreibwarengeschäft
auf einem brüchigen, kaum bereiften Fahrrad hin- und hergestrampelt war,
und vor dem Schaufenster stehend mir merken wollte, was da auf einem Plakat
zu sehen war: ein in einem Geäst sitzender Auerhahn, darunter grasende
Wildschweine, ein Dachs, der aus seinem Bau schaute und noch vieles mehr,
beschloß ich die Sache zu vereinfachen und weniger mühevoll zu
gestalten, ich fing an, meine Darstellungen zu erfinden.
Zum Entsetzen meiner Umgebung malte ich grüne Monde und rote Teiche.
Und wenn ich an die Noten aus der Zeit meines Klosterinternats zurückdenke,
war das Ergebnis meines Zeichenunterrichts für die Patres eine blanke
Katastrophe. Selten hielt ich mich an die vorgegebenen Regeln. Sollten die
Tannen grün sein, malte ich sie blau, Bäche flossen wie schwarze
Tintenströme durch meine Zeichnungen, obwohl sie blau hätten sein
sollen. Ich empfand die Bemühungen meiner Lehrer, nicht nur im Zeichenunterricht,
oft für belanglos und mich nicht betreffend.
Jedenfalls hatte ich, als ich 20-jährig nach München kam, vom Umfang
her ein beträchtliches vre geschaffen. Am liebsten wär ich
nach Rom gegangen, denn ich kannte die Berichte dieser Schwärmer und
Deutschrömer und wollte ihnen nacheifern. Im Urlaub meines letzten kölner
Lehrjahrs war ich mit einem ähnlich enthusiastischen Freund bis Sizilien
geträmpt. Kein Ort schien uns geeigneter für unsre Vorstellungen
als Rom. Hier könnten wir leben, hier könnten wir malen, hier könnten
wir die Welt in die Luft sprengen und neu zusammensetzen.
Über die Jahre hatte ich mich vom Klassizisten zum gemäßigten
Expressionisten gewandelt, dann kam eine Portion Surrealismus dazu (Max Ernst
war einer meiner Heiligen), und als ich nach Basel kam, war ich dermaßen
verunsichert, ich geriet in einen solchen Strudel und Streß, ich wußte
nicht mehr oben noch unten. Dripping war angesagt. Informel, Pop Art, Amerika,
Amerika. Niki de Saint Phalle, hieß es, schieße die Farbe mit
einem Gewehr auf die Leinwand. In der Malklasse, in die ich hineinfiel wie
von einem andern Stern, fuhr ein Schüler mit einem Tretroller über
die am Boden liegende Leinwand, auf die er vorher achtlos aus einigen Töpfen
Farbe plumpsen ließ. Neben mir strickte jemand aus Stahlwolle Pullover
und Kleider. Malen, sagte er, ist out. Einer zerriß Telefonbücher
und stapelte die Fetzen übereinander, nachdem er sie in Kleister getunkt
hatte. Das war seine Antwort auf ein Jahrhundert der Verzweiflung.
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