Das Buch vom Sehen

Das Auge ist unser exponiertester Sinn. Manche Physiologen zählen es noch unmittelbar zum Gehirn - als Außenposten sozusagen, der direkt mit der Umwelt in Kontakt steht. Für Leonardo da Vinci, den berühmtesten Vorläufer aller Physiologen, galt das Auge noch als »Fenster zur Seele«. So zumindest konnte er sich erklären, warum wir in plötzlicher Gefahr weder das Herz »die Quelle des Lebens« noch den Kopf, »Beherrscher und Behälter der Sinne« schützen, sondern unser Auge. Das Auge ist also, wie dieser Reflex unter Umständen zeigt, nicht nur unser exponiertestes, sondern auch unser privilegiertestes Sinnesorgan. Um die zentrale Bedeutung, die der menschliche Organismus seinem Gesichtssinn zuweist, ordnen sich alle Besetzungen, mit denen die Vorgänge des Sehens befrachtet sind. Sehen kann eine Menge heißen: erkennen, anschauen, begreifen, beobachten, besichtigen, blicken, erblicken, erspähen, sichten, betrachten, schauen, ansichtig werden, bemerken, beurteilen, einsehen. Diese - sicher noch immer unvollständige - Lexik zeigt, daß unser intensivster Sinn zugleich der unzuverlässigste ist, denn das Verb sehen meint nicht nur Wahrnehmung von außen, sondern auch von innen, das heißt: Es gibt kein gereinigtes und befreites Sehen. Sehen ist nämlich immer subjektiv. Jeder sieht etwas anderes. Im Gegensatz zum gemeinschaftsstiftenden Gehör individualisiert das Auge die Menschen. Zu dem Verb zusammengehören hält das Wortfeld sehen keine Entsprechung bereit.

Rolf Hannes legt nun ein Buch vom Sehen vor, sein Buch vom Sehen. So weit dieses Vorhaben auch ausgreift, unter den beschriebenen Voraussetzungen läßt sich als Resultat nur ein subjektives Modell erwarten. Das Buch besteht aus 15 Holzschnitten und ebenso vielen Texten. Die Bilder und Texte lassen sich einander thematisch zuordnen. Die Texte werfen nicht nur ein Licht auf die Vielfalt der Konnotationen des Verbs sehen, sondern ebenso auf die Subjektivität des Sehens selbst. Entsprechend heterogen fällt die Sammlung aus, die Rolf Hannes zusammengestellt hat. Texte aus fernöstlichen Mythologien folgen auf scharfsinnige philosophische Bermerkungen, mystische Anspielungen auf aphoristische Einwürfe sowie Vermerke aus Tagebüchern, die persönliche Seherfahrungen registrieren. Dem in alle Richtungen des Denkens und Vorstellens auseinander strebenden Textmaterial stellt Hannes die konzeptionelle Disziplin seiner Bilder entgegen. Das gilt übrigens auch in umgekehrter Weise, daß nämlich die anarchische Buntheit der Texte durch die Disziplin der reduktionistischen Bilder auf eine Struktur bezogen wird. Die Strenge wird in erster Linie durch Serialität erzeugt. Alle 15 Bilder weisen dasselbe Format auf, haben schon auf der Druckplatte eine regelmäßige Umrandung und verdanken sich ein und derselben technischen Verfahrensweise. Auch ihre inhaltliche Ordnung ist seriell. Schon die Umrandung, die vordergründig als Formalität erscheinen mag, funktioniert innerhalb der ästhetischen Konzeption. Abgesehen davon, daß die Ränder von vornherein einen Bildraum konstituieren und das Format festlegen, beugen sie der Gefahr vor, die Bilder zu Illustrationen der Texte abzuwerten, Ganz im Gegenteil definieren sie die Arbeiten als autonome Bilder

Normalerweise wird der Holzschnitt mit einem flächigen Formenrepertoire und starken Schwarz-Weiß-Kontrasten, ja sogar mit einer spezifischen, natürlich gewollten Grobschlächtigkeit assoziiert. Zuordnungen, die in jenen künstlerisch-handwerklich festgelegten Kanon gehören, der das Druckmetier auf ein besonderes Niveau hebt.

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